«Oje», denke ich mir, als Frau Neuhaus von Sonora Coaching mir diesen Auftrag gibt. Ich solle bitte einen Blogeintrag zum Thema Perfektionismus verfassen, welcher dann auf der Website aufgeschaltet und somit für alle ersichtlich sein wird. «Für Alle! Für die ganze Welt! Sch***.», meinte meine innere Stimme und ehrlicherweise auch noch jetzt, währenddessen ich diesen Text hier schreibe. Mir ist durchaus bewusst, dass die Reichweite meins Blogbeitrags wohl nicht ganz so gross sein wird. Dennoch entstehen in meinem Kopf bereits erste Bilder von unbekannten Leuten, die diesen Blog lesen und sich anschliessend darüber lustig machen. Darüber wie viele Grammatikfehler darin enthalten sind. Oder wie oberflächlich ich dieses Thema bearbeitet habe. Oder dass ich langweilig schreibe. Oder oder oder…
«Es muss also einen perfekten Beitrag zu Perfektionismus werden.», ertönt es sogleich in meinem Kopf. Glücklicherweise kam ich während den vergangenen drei Jahren in den Genuss einiger Therapiesitzungen und erkenne demzufolge die Absurdität meines letzten Gedankens. «Bravo Steffi.», denke ich mir und stelle mir sogleich vor, wie ich diesen Moment der Erkenntnis beim nächsten Treffen mit meiner Psychotherapeutin ihr erzählen werde. Sie wird dann – so erhoffe ich es mir zumindest – ganz stolz auf mich sein und meinen Fortschritt mit Lob würdigen. Und ich glaube auch, dass sie sich darüber freuen wird, dass der ganze «Chnorz» mit mir doch noch etwas bringt. Psychotherapeutin (kurz) zufriedenstellen: Check. ✓
Aber zurück zum Blogeintrag. Entgegen meiner eben beschriebenen Erleuchtung kann ich doch trotzdem nicht einfach absichtlich eine ungenügende Arbeit abgeben. Einen mangelhaften Blogbeitrag zu Perfektionismus schreiben, nur damit ich anschliessend sagen kann: «Jawohl, ich bin halt schon super weit in meinem ganzen Prozess. Ich bin jetzt frei von jeglichen Perfektionsansprüchen an mich selbst. Quasi geheilt. Losgelöst von alten Mustern und dem ganzen anderen Mist. Ich hab’s geschafft und bin nun ein neuer und besserer Mensch. Sehet und staunet!»? …*Pause*… Ich verspüre Druck in mir. Unwohlsein macht sich breit und das Hin und Her in meinen Hirnwindungen macht es auch nicht besser. Mir wird einmal mehr bewusst, wie tief dieser Anspruch an Perfektionismus an mich selbst eigentlich geht. «…ein besserer Mensch sein.». – Als ob ich vorher eine ganz fürchterliche Person gewesen wäre… Folglich würde es bedeuten, erst dann glücklich mit mir und meinem Leben zu sein, wenn alles tadellos ist. Ein Leben voller Gedankengänge wie zum Beispiel: «Sobald ich 5 kg abgenommen habe, werde ich glücklich sein und mich endlich schön fühlen.», «Obschon ich längst Feierabend hätte, will ich dennoch alle meine E-Mails bearbeiten. Würde ich vorher gehen, so fühlte ich mich schlecht. Meine Leistung wäre dann ungenügend und die anderen reden dann bestimmt über mich.», «Dieses Arbeitszeugnis ist zwar gut und ich wurde auch von der Chefin gelobt. Aber ich hätte mich dennoch mehr anstrengen können. Es ginge noch besser».
Gut ist nie gut genug und wenn ich nichts leiste, bin ich nichts wert. Lobt man mich für etwas, so kann es wohl nicht sehr schwer gewesen sein. Denn sonst hätte ich es ja nicht geschafft. Angst davor zu haben, Fehler zu machen und dadurch möglicherweise nicht mehr zu gefallen. Fehler sind gleichzustellen mit Scheitern. Stress und Überbelastung werden zum Dauerzustand.
Der Psychotherapeut N. Spitzer unterscheidet verschiedene Perfektionismus-Formen – je nachdem, woher die perfektionistischen Standards kommen und an wen sie sich richten:
- Selbstgerichteter Perfektionismus: Jemand setzt sich selbst enorm hohe Standards.
- Soziale Perfektionismus: Jemand glaubt, enorm hohe Standards erfüllen zu müssen, weil das andere so erwarteten.
- Aussen gerichteter Perfektionismus: Jemand hat enorm hohe Erwartungen an sein Umfeld oder die Kollegen und akzeptiert es nicht, wenn sich jemand nicht entsprechend verhält.
Perfektionismus per se ist nichts Falsches. Es kann einem dabei helfen, Mängel zu erkennen. Kann einen anspornen und bis zu Höchstleistungen verhelfen. Aber es kann auch zum Problem werden und krank machen. Jemand der nach Perfektion strebt, tut dies jedoch nicht zwangsläufig in allen Lebensbereichen. Einige setzen sich (zu) hohe Standards auf der Arbeit, in Beziehungen, im Sport oder auch in der Art und Weise wie sie ihr Leben führen. Manchmal ist dann von Lifestyle-, Beziehungs- oder Leistungsperfektionismus die Rede. Personen, die perfektionistisch veranlagt sind, sehen (potenzielle) Fehler als Versagen an. Dies kann zu Ängsten führen. «Perfekte Ausführung und keine Fehler» lautet die Vorgabe. Erreicht man dieses Ziel nicht, fühlt man sich wertlos. Ebenso gehört das Abwerten von Geleistetem – auch dann, wenn es gut ist – dazu. Der Selbstwert leidet darunter oder es entstehen Schuldgefühle. Nimmt Perfektionismus einen immer grösseren Platz im Leben ein, so kann dies – wie bereits erwähnt – krank machen. Depressionen, Essstörungen, Suchterkrankungen, Burn-Outs, Ängste und Schlafstörungen können Folgen davon sein.
Immer wieder lese ich während meiner Recherche, dass Perfektionismus an und für sich nichts Negatives ist. Das Problem ist der Umgang, wenn etwas (scheinbar) nicht gelingt. Fehler werden als Scheitern empfunden. Dies macht Angst. So kann es passieren, dass man sich im Vorfeld aufgrund der Angst, Gedanken wie zum Beispiel: «Würde ich diese Weiterbildung machen, müsste ich am Schluss eine Prüfung schreiben. Was, wenn ich diese nicht schaffe? Ich lasse es wohl lieber sein und fange keine Weiterbildung an.» macht. Oder man entwickelt soziale Ängste. Zum Beispiel wenn man sich fürchtet, vor anderen zu sprechen. Man glaubt vielleicht von sich, zu wenig redegewandt zu sein und zieht sich deshalb immer mehr zurück.
Unteranderem meinem Perfektionismus verdanke ich es auch, dass ich vor drei Jahren ein Burn-Out hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt waren mir meine Muster und den Hang zur Perfektion kaum bewusst. Rückblickend ist es für mich nur logisch, dass ich mit meiner ganzen früheren Lebensart geradewegs in ein Burn-Out laufen musste.
Zum Thema Perfektionismus möchte ich gerne einen Moment mit euch teilen, welchen ich während meines Klinikaufenthaltes erlebt hatte: Ich ging oft spazieren und ich tat dies bis anhin immer wie folgt: Möglichst schnell, ohne Pausen, mit möglichst wenig angestrengter Atmung und Beibehaltung des Tempos. Währenddessen ich also lief, kreisten immer wieder dieselben Gedanken in meinem Kopf herum: «Atme ich zu fest? – Ja ich sollte weniger ausser Atem sein. Meine Kondition ist wirklich ungenügend. Ist mein Puls zu hoch? – Logisch, wenn du so unsportlich bist. Laufe ich schnell genug? Wie lange gehe ich nun schon und bin ich gut in der Zeit? …» Vor meinem inneren Auge befand sich eine Art Liste mit all diesen Punkten, die es zu erfüllen gab. Selbstverständlich war ich nie gut genug. Auf dem besagten Spaziergang war dies nicht anders als sonst auch. Bis mir plötzlich das allererste Mal auffiel, was ich da eigentlich genau denke. Ich fing an zu weinen und war völlig erschöpft. Aber nicht vom Laufen, sondern von mir selbst. Von all meinen (zu) hohen Erwartungen an mich selbst, das ständige Bewerten und Vergleichen, nie gut genug zu sein und den damit verbundenen (Leidens-) Druck. Ich wurde wütend auf mich selbst und dachte: «Gopf! Du bist jetzt 30 Jahre alt und bist noch nicht einmal im Stande, einfach nur zu gehen. Noch während eines beschissenen Spaziergangs bewertest du dich. Dass kann doch nicht dein Ernst sein?! – Lerne gefälligst zu gehen. EINFACH NUR ZU GEHEN!!» …
Meinen Hang zur Perfektion in gewissen Lebensbereiche werde ich wohl nie ganz verlieren. Was auch gut so ist. Ich lerne aber mit ihm umzugehen. Wenn ich mir Perfektionismus als eine Leiter vorstelle, so stand ich früher weit oben. Heute befinde ich mich zwar immer noch auf dieser Leiter, aber auf einer deutlich niedrigeren Sprosse. Ich bin stolz und dankbar, was (s)ich dadurch verändern konnte.
Im Umgang mit Perfektionismus gibt es im Internet zahlreiche Tipps. Es lohnt sich sehr, sich da mal ein bisschen umzusehen und sich dabei zu reflektieren. Ich verzichte hier auf das Aufzählen von Ratschlägen. Nicht, weil ich es nicht wichtig fände. Sondern ich halte euch – die Leser/innen dieses Blogs – für befähigte Menschen, welche sich je nach Interesse und Bedarf gerne selbst auf die Suche nach zusätzlichen Informationen machen. Jede und jeder so wie er/sie mag.
Und ja, ich habe inzwischen gelernt, einfach nur zu gehen. Heute bin ich in der Lage, Spaziergänge auch geniessen zu können. Ohne dabei mich und meine Leistung ständig hinterfragen zu müssen. Das ist ein sehr befreiendes Gefühl. Es wird aber wohl ein Leben lang eine Aufgabe von mir sein, ein gutes Gleichgewicht punkto Perfektion zu finden. Aber das ist ok so.